DIE MALEREI UND DAS SCHACH

„Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ‚Andersseins‘ als das ‚gewöhnliche Leben‘.“
Huizinga

Während meiner Kindheit in Kiew in den 80er Jahren war Schachspiel genauso angesehen wie Fussball oder Eishockey. Für diese Popularität sorgte vor allem das Duell zwischen Anatoliy Karpov und Garry Kasparov. Da Anatoliy Karpov damals in der Hauptstadt der sowjetischen Ukraine als Favorit und Vertreter der Moskauer Regierung galt, gewann Garry Kasparov die Sympathie der Kiewer. Kasparov’s Spielkunst ermöglichte dem Großmeister 1985 den WM-Titel zu erobern und die nächsten 15 Jahre erfolgreich zu verteidigen. In der Malerei habe ich von Garry Kasparov gelernt, denn ich betrachte das Anbringen von Farben als ein Spiel.

“Ohne Ziel ist das Spiel sinnlos.”

Der Großmeister macht Züge, nicht weil er nur spontan auf Ereignisse reagiert, sondern weil er den Gegner in 10-15 Zügen schachmatt setzen will. Ich bringe Farben auf eine Fläche nicht in unmittelbarer Reaktion auf ein Geschehen, sondern weil ich das Gemälde als ganzes besiegen will. Ziel im Schach ist es, den König des gegnerischen Spielers schachmatt zu setzen; Ziel der Malerei ist – eine schöne Formel.

“Warum dieser und nicht jener Zug? – eine Frage, die den wirklichen Strategen von einem Taktiker unterscheidet.”

Ein Ziel erfordert Strategie und Taktik. Jede Berührung der Oberfläche des Gemäldeträgers mit der Farbe stimmt entweder mit meiner Strategie überein oder sie widerspricht ihr. Das kontinuierliche Nachdenken über das Procedere beim Malen hilft mir über die Hindernisse der Unentschlossenheit und der bloßen Selbstsicherheit hinwegzukommen. Ob ich mich auf der Fläche langsam, Schritt für Schritt oder schnell, dynamisch, angreifend bewege, entscheide ich mit Beginn des Spiels. Aber es gibt keine universelle Strategie, die den Erfolg garantiert. Ich liebe es schnell, dynamisch und angreifend zu malen, aber wie oft habe ich mich in dieser Vorgehensweise verloren! Oftmals ändert sich die Situation auf der Fläche während ich mit den Farben jongliere und ich muss entscheiden, ob ich meine ursprüngliche Strategie beibehalte oder nach einer neuen greife?

“In Bewegung sein!”

Im Schach und in der Malerei gibt es Züge, die der Strategie des Vorgehens absolut widersprechen und doch das Spiel retten. Wenn die Strategie ein Spielentwurf ist, dann ist die Taktik eine bewusste Reaktion auf den Spielverlauf. Oft gelange ich beim Malen zu einer ausgewogenen Position – ich habe ein Unentschieden erreicht. Ich will aber weiter gehen und wenn ich es tue, verliere ich die erreichte Position. Das muss ich aushalten. Beim Schach wird ein solcher Zustand “achtsames Nichtstun” genannt. Die Ausgewogenheit zwischen mir und dem entstehenden Gemälde dauert nicht und es wird mir klar, dass ich einen Angriff wagen muss. Wenn ich mich aber nicht beherrsche, wird es kein Unentschieden mehr geben und ich werde verlieren. “Das strategische Ziel muss sich organisch in taktisches Denken überführen lassen.”

“Kreativität herrscht aufgrund von Regeln und lenkt auf diese Weise unser Kalkül.”

Häufig bricht aber eine Intuition in den Verlauf der Regeln ein und verlangt einen nächsten Schritt. Jedes gelungene Gemälde von mir hat Stellen, die sich der Deutung entziehen. Solche Stellen auf der Fläche stehen im Widerspruch zu meinen Absichten und dennoch spielen sie eine wesentliche Rolle. Wenn ich mich aber der Intuition zu sehr überlasse, mache ich Fehler, und die gemalte Fläche zerbröckelt. Das Kalkül darf nicht zum Schema degenerieren.

“Erst wenn wir nicht nur auf den Gegner reagieren, kontrollieren wir den Spielverlauf”

Wenn ich Farben auf einer Fläche anbringe, habe ich vor dieser immer Unrecht. Ich will aber malen. Ich greife an und die Fläche verteidigt sich. Bei einer erfolgreichen Initiative gibt sie dem Angriff nach.

“Nervenenergie – ist eine Waffe, die wir für jeden intellektuellen Kampf mitnehmen.”

Manchmal empfinde ich vor dem Malen Nervosität, werde im Prozess des Malens aber sicher, dass ich mein Ziel erreichen werde. Manchmal fange ich ausgeglichen und sicher an, verliere aber die Balance, mache Fehler und die Fläche siegt.

“Man soll das ganze Brett sehen.”

Je tiefer ich mich mit der Malerei auseinandersetze, desto komplexer erweist sich mein Wissen von ihr. Malerei beginnt mit Gesundheit, psychischer Disposition, Verstand, Intuition, Fantasie und konzeptuellem Vermögen – und sie endet mit dem Anbringen von Farben auf einer Fläche. Ich werde unverzüglich bestraft, wenn ich die Gesundheit vernachlässige, den Verstand missachte und Intuitionen nicht zulasse.

Besonderen Dank für die Hilfe bei der Realisierung dieses Textes an Prof. Bernhard Lypp

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