
“… wenn man Charakter hat, hat man Talent… Ich sage nicht, daß der Charakter genügt, daß es genügt, ein ordentlicher Mensch zu sein, um gut zu malen. Das wäre zu leicht. Aber ich glaube nicht, daß ein dreister, liederlicher Kerl Genie haben kann.” Paul Cezanne
Mein Freund, der Maler Gonghong Huang, verwendet den Begriff Charakter, wenn er über Malerei urteilt: “Schau, was für einen guten Charakter dieses Gemälde hat!” oder “Dieses Bild ist charakterlos!” Ich glaube, ich verstehe was Gonghong meint. Nun will ich Charakter für mich definieren und frage mich selbst, was der Charakter von Gemälden sein könnte.
Das Wort Charakter bedeutet im Griechischen “Merkmal”. In der Psychologie bezeichnet Charakter die Eigenschaften eines Individuums, auf der Bühne die Rolle, die man spielt; Charakter bezeichnet die Gesamtheit der angeborenen und anerzogenen geistig-seelischen Eigenschaften eines Menschen. Was ist aber der Charakter der Malerei oder was sind die Eigenschaften eines Gemäldes?
Um diese Frage zu beantworten habe ich drei Gemälde ausgesucht: Tizian’s “Dornenkrönung” von 1572 – 76, das in der Münchner Alten Pinakothek zu sehen ist; Cezanne’s “Stilleben mit Totenkopf und Leuchter” 1900 – 04 aus der Staatsgalerie Stuttgart und Mondrian’s “Komposition Nr. I, mit Rot und Schwarz” 1929, aus dem Kunstmuseum Basel.
Beim Lesen von Stefan Schessls Zulassungsarbeit zum Staatsexamen an der Akademie der bildenden Künste München bin ich auf ein Zitat des Kunsttheoretikers Nikolai Tarabukin (1889-1956) aufmerksam geworden: “In der Malerei und in der Kunst im allgemeinen muß das Problem der Materialien separat behandelt werden, d.h. der Maler muß ein Gefühl für Materialien entwickeln, er muß die jedem Material eigenen Charakteristika spüren, die die Konstruktion eines Objekts mitbestimmen. Das Material diktiert die Form und nicht umgekehrt.” Das Gemälde “Dornenkrönung” von 1572 – 76 malt Tizian auf dichtem Leinen von etwas gröberer Struktur. Der Maler lässt den dichten und schweren Charakter des Gewebes deutlich erkennen. Tizian malt “alla prima”, er bringt die Ölfarbe mit leichten Pinselstrichen an, sodass die Farbe auf der Oberfläche verharrt und die Struktur des Leinens durchleuchtet. Der Venezianer malt schnell, er wartet nicht bis die Ölfarbe trocken wird. Er geht mit demselben Pinsel über viele Stellen der Leinwand, trägt eine Farbe auf eine Stelle auf, nimmt von diese Stelle zwei Farben mit und geht zur dritten Stelle über. Der Maler lässt die Formen durch den Charakter der Ölfarbe wachsen. Auf dieselbe Weise entstehen Totenkopf und Leuchter bei Cezanne. “Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Moderne” schreibt Gottfried Boehm über Paul Cezanne: “Versucht man, jener temporalen Struktur näherzukommen, die das Bild beherrscht, so stoßen wir auch hier auf die Präsenz einer farbigen Materie, die alles, was wir sehen, durchwirkt.” Cezanne beherrscht die Eigenschaften der Ölfarbe. Die farbige Materie besteht aus starkem und gering verdünntem Auftrag, aus transparenten und dichten Stellen, aus Teilen, die nass auf nass und nass auf trocken aufgetragen sind. Für Piet Mondrian dagegen waren die Eigenschaften der Ölfarbe nicht wesentlich. In “Komposition Nr. I, mit Rot und Schwarz” von 1929 nutzt Mondrian das Öl als Mittel, um den Charakter der Oberfläche zu verdeutlichen. Er übermalt die Flächen Schicht für Schicht so oft, bis die gesamte Oberfläche des Gemäldes zu einer einheitliche Materie wird.

Piet Mondrian beschränkt sich auf die drei Grundfarben, sowie auf Schwarz, Grau und Weiß. Erst wenn ich Mondrian’s Werke hautnah angeschaut habe, stelle ich fest, dass der Maler seine Grundfarben während des Malens gesucht und durch Veränderung und Übermalen gefunden hat. In “Komposition Nr. I, mit Rot und Schwarz” kombiniert und verteilt der Maler Rot, Schwarz und Weiß derart, dass Warm-Kalt- und Hell-Dunkel-Kontraste sich in spannendem Gleichgewicht halten. Obwohl Tizian seinen Farbauftrag nie vertuscht und den Pinselduktus auf der Oberfläche festhält, bewirken seine Farben und ihre Abstufungen Tiefe und Weite des Gemäldes. Der tiefere Farbcharakter aus ineinander verhülltem Rot, Gelb, Blau und Weiß weist den Betrachter auf das visuelle Motiv des Gemäldes hin. Das aus den Grundfarben und Weiß ausbalancierte Kolorit der Dornenkrönung führt das Auge ununterbrochen über hellere und dunklere Stellen des Gemäldes. “Cezanne verwendete Blau, um sein Gelb zur Geltung zu bringen, aber er benützte es wie alles andere mit jedem Unterscheidungsvermögen, dessen niemand sonst fähig war.” – so äusserte sich Matisse 1908 über Cezanne. Paul Cezanne benutzt im “Stilleben mit Totenkopf und Leuchter” von 1900 – 04 einen komplementären Kontrast. Orangeocker und Blaugrau sind Gegengewichte, die der Maler mit schnellen Pinselstrichen auf einander stoßen lässt bis das Gemälde vervollständigt ist. Der Münchner Kunsthistoriker Lorenz Dittmann beschreibt in seinem Buch “Die Kunst Cezannes: Farbe, Rhythmus, Symbolik” Cezanne’s Stilleben. Das Gemälde “lebt aus dem Kontrast von kühlem Blaugrau und gelblichen Ockertönen. Es ist “unvollendet” – in dem Sinne, daß die Leinwand nicht überall mit Farbe bedeckt wurde. Aber die farbige Zone innerhalb des grautonigen Leinwandgrundes bildet eine rhythmisch vollständige Form…”

“Unter Rhythmus verstehen wir eine in gleichmäßigen Abständen sich wiederholende Betonung. Sie setzt für ihre Existenz ein Metrum, eine meßbare Einheit der Abstände voraus, die die Regelmäßigkeit des Flusses (Rhythmus) ermöglicht. … Solches Metrum zeigen auch Werke der Malerei, es ist die Symmetrie im ursprünglichen Sinne des Wortes, das Einhalten eines Grundmaßes. … Diese Grunddistanz wird aber nun wahrnehmbar durch die ihre jeweiligen Einsätze in der Erscheinung markierenden Betonungen, mögen diese noch so zart sein. Die Betonung ist aber nicht ohne Charakter, nicht bloße Betonung, vielmehr stetig, unregelmäßig, hüpfend, lastend, schwer, leicht, heiter, ernst und dergleichen. Ohne Metrum und ohne Rhythmus kann kein Gemälde sein, weil durch diese beiden voneinander untrennbaren Kompositionsmittel erst jene Teile in demselben konstituiert werden, die ein Kunstwerk als Ganzheit, als die es gefordert wird, ermöglichen.”, schreibt der Kunsthistoriker Kurt Badt. Das Spätwerk Tizian’s und die “Dornenkrönung” zumal sind durch den Rhythmus bei dem Anbringen von Farben gekennzeichnet. Die gleichmässigen Abstände und regelmässigen Akzente der mit dem Pinsel in unterschiedlichen Tempi über die gesamte Fläche des Gemäldes angebrachte Farbe bilden eine rhythmisch vollständige Form. “Alle seine Werke sind rhythmisiert und metrisiert, aber an einigen seiner Aquarelle sind noch die Grundlinien der Metrisierung zu sehen.”, schreibt Lorenz Dittmann über Cezanne. Senkrechte und Waagrechte Konturen und Grundlinien des Stillebens bringen den Rahmen für einen rhythmisch gestalteten Farbauftrag hervor. Die Grundlinien trennen und verbinden die Abstände und die Betonungen, die durch Wiederholung und Regelmäßigkeit entstanden sind. “Echten Boogie-Woogie begreife ich vom Ansatz her als homogen mit meiner malerischen Intention: Zerstörung der Melodie, was der Zerstörung der natürlichen Erscheinung gleichkommt, und Konstruktion durch die fortlaufende Gegenüberstellung reiner Mittel – dynamischer Rhythmus.”, sagt, Piet Mondrian. Und in dem Text “Mondrian und die Musik” schreibt Karin v. Maur: “Von allen Rhythmen ist der Rhythmus der Horizontal- und Vertikal-Stellung der tiefste Grund. Von daher ist in allem doch eine Ausgeglichenheit. … Im Spannungsfeld zwischen Beat und Off-Beat ebenso wie zwischen dem “Metrum” der vorgegebenen Fläche mit ihrer Horizontal-Vertikal-Gliederung und den rhythmisch versetzen Schwerpunkten der Farbeinsätze und Achsenverschiebungen vollzieht sich das Bildgeschehen.” In “Komposition Nr. I, mit Rot und Schwarz” rhythmisiert Piet Mondrian den Zeitraum durch variable Verhältnisse gerader Linien und reiner Farben. Wie bei Cezanne und Tizian beherrscht der Rhythmus Mondrian’s Gemälde; beim Betrachten greift der Rhythmus das Sichtbare an und zwingt sich diesem auf. “Der reinste Rhythmus muß der reinste Ausdruck des Lebens sein… Alle Ausdrucksweisen des Rhythmus sind wahr.”, sagt Piet Mondrian.
Besonderen Dank für die Hilfe bei der Realisierung dieses Textes an Prof. Bernhard Lypp